Der Leichlinger Obstweg und seine Tücken
„Obstweg“ klingt lieblich und harmlos, dachte ich und freute mich, wieder in die Natur zu kommen und meine Rollstuhl-Wanderungen, die ich im vergangenen Jahr begonnen hatte, fortzusetzen.
Ich hatte mir den Leichlinger Obstweg ausgesucht; einen etwa neun Kilometer langen Rundweg im Bergischen Land, der von Köln gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist.
Meine Vorab-Recherche ergab jedoch auch, dass der Weg „nicht durchgehend für Kinderwagen geeignet ist“ und damit auch für Rollstühle nicht uneingeschränkt barrierefrei sein könnte.
Prima, dachte ich, dann kann ich auch gleich noch meine neueste Errungenschaft testen – ein Vorsatzrad für den Rolli, das mehr Geländetauglichkeit verspricht. Mein Vorsatzrad ist ein 16 Zoll großes Rad an einem trapezförmigen Rahmen. Diese Konstruktion wird vorne am Rollstuhl angebracht, so dass er nur noch auf drei großen Rädern fährt. Damit können Hindernisse leichter überwunden werden.
Für die Anreise baute ich das Gestänge ab und hängte es mit Bandschlingen hinten an die Schiebegriffe des Rollstuhls, zusammen mit meinem Rucksack. So kam ich problemlos vom Kölner Hauptbahnhof zum Bahnhof Leichlingen. Dank der zuvor angebrachten Markierungen an Rolli und Rahmen konnte ich am Bahnsteig flugs das Vorsatzrad wieder in seine richtige Position bringen und am Rollstuhl montieren. Ich verstaute die beiden kleinen Lenkräder im Rucksack und fuhr auf drei Rädern los.
Schon mein Weg zum Startpunkt des Obstweges machte Spaß, da er malerisch entlang des Wupper-Ufers verlief. Am Ortsrand von Leichlingen beginnt der Obstweg mit einem kurzen aber steilen Aufstieg. Auf der Höhe angekommen, empfing mich eine der zahlreichen Informationstafeln des Obstweges. Dank des herrlichen Wetters hatte ich eine tolle Sicht auf die Kölner Bucht und konnte sogar den Kölner Dom erahnen. Zwar blühten die Apfelbäume noch nicht, doch man konnte bereits erahnen, welche Pracht das demnächst sein würde.
Der Weg führte zunächst an Obstwiesen vorbei nach Bergerhof. Dort verpasste ich zunächst den Abzweig rechts über die etwas befahrene Straße und drehte daher eine Ehrenrunde durch den Ort. Beim zweiten Versuch befand ich mich direkt auf der richtigen Straßenseite und entdeckte so die Markierung des Obstweges an der Abzweigung – die weißen Umrisse eines Apfels auf schwarzem Grund.
Spätestens ab hier bewährte sich das Vorsatzrad: War der Weg bisher noch größtenteils asphaltiert, führte mich der stilisierte Apfel nun über Feld- und Waldwege und war dadurch als zumindest recht holperig zu beschreiben. Nach einem längeren Anstieg gelangte ich schließlich an eine Weggabelung, an der zwei junge Frauen mit einem Baby saßen.
Noch während ich versuchte, mich anhand meines Handys zu orientieren, empfahl mir die junge Mutter, den rechten Weg zu nehmen, da der linke wegen umgestürzter Bäume unpassierbar sei.
Der Empfehlung folgend verließ ich den eigentlichen Obstweg und rollte steil den Berg hinunter ins Tal der Wupper. An der Rödeler Brücke machte ich eine kurze Trinkpause und plante auf meinem Handy meinen weiteren Weg entlang der Wupper zum Obstweg und damit schließlich zurück nach Leichlingen.
Ich fuhr weiter. Nach kurzer Zeit stellte ich fest, dass mein Handy mal wieder weg war. Ich machte kehrt, schob den Rollstuhl langsam zur Brücke zurück und suchte die Strecke nach meinem Handy ab. Ergebnislos!
An der Brücke traf ich ein älteres Paar, das ich um Hilfe bat. Der Mann reichte mir sein Handy mit den Worten: „Dann rufen Sie sich mal an!“ Ich wählte meine Nummer und tatsächlich hob jemand nach kurzem Klingeln ab. Welch ein Glück! Ich verabredete mich mit dem ehrlichen Finder am alten Gasthaus Fähr. Keine zehn Minuten stand ich dort, ehe ein kleiner dunkler PKW, der mich an einen Pizza-Flitzer erinnerte, über die Brücke kam und neben mir hielt.
Das Fahrerfenster wurde heruntergekurbelt und durch das offene Fenster bekam ich – nein, keine Pizza –, sondern mein Handy gereicht, nachdem der junge Mann sich vorher vergewissert hatte, dass ich der mit dem verlorenen Handy sei. Ich konnte mich gerade noch bedanken, dann fuhr er auch schon wieder weiter.
Ich verstaute mein Handy in der Jackentasche und setzte meinen Weg an der Wupper fort, bis ein schmaler Waldweg links abzweigte und hoch zurück zum Obstweg führte. Bevor ich mich an den steilen Aufstieg machte, legte ich auf einer Bank am Fuße eines alten Baumes eine Mittagsrast ein. Gut gestärkt schob ich meinen Rollstuhl den Berg hoch und gelangte bei Leysiefen wieder auf den Obstweg.
Hier setzte ich mich wieder in den Rollstuhl und fuhr vorbei an Oberschmitte bis nach Bennert – begrüßt von einer Schar schnatternder Gänse an einer Weggabelung. Ich folgte dem vertrauten Apfelsymbol nach links, kam aber nur etwa 400 Meter weit. Ein umgestürzter Baum lag quer über dem Weg und hinderte mich an der Weiterfahrt.
Bei einer meiner vorherigen Touren, hatte ebenfalls ein Baum meinen Weg durch die Ville, nahe des Brühler Wasserturms, versperrt. Damals kam mir eine junge Frau mit ihrem Hund entgegen. Sie sah mich ratlos vor dem Hindernis stehen und bot mir an, den Rollstuhl über den Baum zu heben. Ich warnte, dass der Rollstuhl mit seinen fast 40 Kilos sicherlich zu schwer sei. Aber die junge Frau meinte nur lachend: „Das wiegt mein Hund auch und den muss ich auch regelmäßig tragen.“ Und tatsächlich konnten wir den Rollstuhl zusammen über den Baum heben.
Dieses Mal aber kam niemand. Seufzend drehte ich um und fuhr zurück zu der Weggabelung mit den schnatternden Gänsen. Dort vergewisserte ich mich mit einem Blick auf mein Handy, dass der andere Weg etwa parallel zu dem versperrten Obstweg verläuft und ich so später wieder meine angestrebte Route fortsetzen könne. So mein Plan.
Ich fuhr den schmalen durchwurzelten Weg eine Zeit bergab. Völlig unerwartet fiel der Pfad plötzlich nach links ab. Ich konnte nicht bremsen, so dass ich mit dem Rollstuhl in eine Mulde kippte. Zum Glück war dem Rollstuhl und mir nichts passiert. Ich richtete uns beide auf und dann der Schreck: Mein Handy war nicht mehr in der Jackentasche! Weg, zum zweiten Mal heute!
Um mich herum eine dichte Laubdecke – kein Handy zu sehen! Wenn mich doch nur jemand anriefe, damit ich das Handy zumindest hören und damit wiederfinden könnte. Oder hatte ich es vielleicht schon vorher irgendwo bei den Gänsen verloren?
Daher schob ich den Rollstuhl wieder zurück auf den Weg, um auf Suche zu gehen. Zum Glück kam mir ein Herr joggend aus der Richtung entgegen, in die ich eigentlich wollte. Ich sprach ihn an: „Ich bin mit meinem Rolli hier umgekippt und jetzt suche ich mein Handy. Können Sie mich vielleicht einmal anrufen?“ Leider hatte er kein Handy dabei, versprach aber nach Hause zu laufen und mit seinem Handy zurückzukommen.
Ich nutzte die Wartezeit und suchte den Weg weiter ab. Ich war schon einige Meter weit gekommen, da kam mir die Idee, die Un- bzw. Umfallstelle zu markieren. Ich fand einen abgebrochenen Stock und steckte diesen senkrecht in die Mitte der Mulde. Dann ging ich zurück zum Weg, wo mir der Jogger bereits entgegen kam. Mit seinem Handy - und seinem erwachsenen Sohn als Verstärkung! „Sechs Augen sehen mehr als vier.“
Wir wählten meine Handynummer … Doch wir hörten kein Klingeln. Nach einem weiteren erfolglosen Versuch schlug ich mit einem gewissen Zweckoptimismus vor, die Suche bei den Gänsen fortzusetzen:
„Da habe ich das Handy das letzte Mal benutzt.“ Aber auch dort fanden wir mein Handy nicht.
Etwas ratlos fragte ich in die Runde, wie ich nun am besten zurück nach Leichlingen kommen könnte. Denn schließlich war auf meinem Handy das Kartenmaterial zur Navigation gespeichert. Der Vater hielt meinen „Alternativpfad“ für nicht geeignet, da auch dieser von umgestürzten Bäumen versperrt sei. Er machte sich jedoch direkt auf, um den weiteren Verlauf des Obstwegs hinter dem einen umgestürzten Baum zu begutachten.
Der Sohn blieb bei mir und zusammen beschlossen wir, erneut die Unfallstelle abzusuchen. Dank der Stockmarkierung fanden wir die Stelle problemlos wieder.
Dort zückte der Sohn sein Handy und rief mich noch einmal an. Wir hörten das Freizeichen, warteten auf das Klingeln – und in diesem Moment fingen die Gänse wieder an zu schnattern. Im Ausklingen des Schnatterns hörten wir ein gedämpftes Klingeln. Dann nichts mehr. Der junge Mann wählte erneut. Es klingelte wieder und ich sank sofort auf die Knie und tastete den dichten Blätterteppich ab. Unweit des Stocks fand ich es wieder: Mein Handy!
Wir gingen zurück zu der Weggabelung, wo wir den Vater trafen und tauschten die Neuigkeiten aus: Wir erzählten von dem wiedergefundenen Handy und er berichtete, dass der Obstweg hinter dem umgestürzten Baum gut passierbar sei. Also hoben wir den Rolli zu dritt über den Baum und ich konnte meine Fahrt fortsetzen!
Etwas später schaute ich zur Orientierung noch mal auf mein Handy. Das Display leuchtete ein letztes Mal kurz auf. Dann war der Akku leer! So blieb mir nichts anderes übrig und ich folgte den Wegweisern mit dem Apfelsymbol weiter durch den Wald. Um auf Nummer sicher zu gehen und, da es bereits später Nachmittag war, fragte ich unterwegs eine Frau mit Hund, ob dies der Weg nach Leichlingen sei. Sie bejahte und gab an, dasselbe Ziel zu haben. Dankbar durfte ich mich beiden anschließen.
Auf unserem gemeinsamen Weg erzählte ich ihr von meiner Motivation, trotz Multipler Sklerose und Rollstuhl noch möglichst viel unternehmen zu wollen. „Und mit dem Vorsatzrad kann ich mich jetzt auch wieder ein Stück ‚off-road‘ bewegen und die Welt jenseits befestigter Wege entdecken, anstatt nur von der Bushaltestelle zum nächsten Ausflugs-Café zu fahren“, erklärte ich ihr. Sie sagte: „Ich glaub‘, ich kann Sie ganz gut verstehen. Meine Schwester ist vor einigen Jahren auch an MS erkrankt.“
So kamen wir vorbei an Obstwiesen, über Feldwege zügig an den Ortseingang von Leichlingen. „Dort führt entweder eine Straße hinab in die Stadt oder man folgt dem Obstweg. Dieser ist allerdings recht steil und schmal. Und eine Stelle könnte etwas kniffelig werden. Dort ist eine spitze Kurve – quasi die Schlüsselstelle des Weges“, gab mir meine Begleiterin zu bedenken. Sie fuhr fort: „Ich begleite Sie in beiden Fällen! Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie einfach Bescheid.“
Mir fiel die Wahl leicht und so zog ich den Rollstuhl Schritt für Schritt rückwärts den Obstweg hinab. Ganz vorsichtig und immer darauf bedacht, nicht auszurutschen, damit mir der Rollstuhl nicht ungebremst den Hang hinab rollte. Meine Begleiterin und ihr Hund Nelo folgten mir dicht. Hinter der besagten Schlüsselstelle wurde der Pfad flacher und ich nahm gerne das Angebot an und tauschte für den letzten Teil des Abstiegs den Rollstuhl gegen Nelo. Unten angekommen ließ ich mich erschöpft aber glücklich in den Rollstuhl sinken, um mit Nelo und seinem Frauchen zurück zum Anfang des Rundweges zu kommen. Dabei trafen wir noch eine Bekannte meiner Weggefährtin. „Chapeau – Hut ab!“, sagte sie anerkennend, nachdem sie erfahren hatte, welchen Weg ich heute bewältigt hatte.
Das Angebot meiner Wegbegleiterin, ich könne bei ihr noch einen Kaffee trinken, lehnte ich dankend ab, da es mittlerweile 18 Uhr war und ich nach Hause wollte. „Außerdem“, sagte ich lachend, „sollte ich wohl eher Ihnen als winziges Dankeschön einen Kaffee ausgeben!“ Davon wollte sie aber nichts wissen und so trennten sich unsere Wege.
Zwei Tage später machte ich die Tour erneut – mit meiner Frau, meiner Tochter und einer Handytasche zum Umhängen. Hier ging alles glatt, die Apfelbäume blühten zwar immer noch nicht. Aber der umgestürzte Baum bei den Bennerter Gänsen war zwischenzeitlich entfernt worden!
Jens Rückert